Gesellschaft in Afghanistan

Wer asymmetrische Kriege beenden will, muss sich mit der Bevölkerung eines Landes befassen, denn sie beschreibt den Raum, in dem sich die Kriegsparteien bewegen. Jegliche Handlungen müssen auf die Beschaffenheit der Bevölkerung abgestimmt sein, um diese von der eigenen Legitimität zu überzeugen. Das heterogene Afghanistan war für westliche Truppen ein großes Hindernis (vgl. Goodson 1998: 273).

 

Heterogene Bevölkerung

Das Land lässt sich in 325 Distrikte, 34 Provinzen und acht Regionen einteilen. Nur 24% der afghanischen Bevölkerung leben in Städten, 76% auf dem Land oder in ländlichen Gebieten. Die Paschtunen gelten als Begründer und Namensgeber des Landes, die sich selbst als staatstragendes Volk sehen, dem es vorbehalten ist, die politische Macht im Land innezuhaben. Sie machen inklusive ihrer Untergruppen der „Durrani“ und der „Ghilzai“ sowie mehrerer Nomadenstämmen („Kutschie“) 42% der afghanischen Bevölkerung aus. Tadschiken bilden die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe in Afghanistan. Sie kann als persischsprachige Bevölkerung, die nicht direkt abzutrennen ist von der persischstämmigen Bevölkerung der Nachbarländer, charakterisiert werden. „Tadschik“ gilt auch als Sammelbegriff für Bevölkerungsteile, die keinem Stamm angehören, Persisch sprechen und sunnitischen Glaubens sind. Tadschiken machen 25% der afghanischen Bevölkerung aus. Die drittgrößte Bevölkerungsgruppe sind die „Hazara“. Sie machen 9% der Bevölkerung aus, sind persischsprachig und schiitischen Glaubens. Neben diesen drei größten Bevölkerungsgruppen gibt es in Afghanistan viele weitere Bevölkerungsgruppen, darunter Usbeken, Sayyiden, Aimaken, Turkmenen, Belutschen und Nwistani. 99% der Bevölkerung sind muslimischen Glaubens, davon vier Fünftel hanafitische Sunniten und ein Fünftel imamitische Schiiten. Zwischen den Bevölkerungsgruppen und Konfessionen herrscht großes Misstrauen. Sehen sich die Paschtunen beispielsweise als die „wahren“ und rechtmäßigen Machthaber in Afghanistan, wird dies von anderen Bevölkerungsgruppen als diskriminierend wahrgenommen. (Vgl. Goodson 1998: 270–272)

Die Amtssprache „Paschtu“ wird nur von knapp 55% muttersprachlich beherrscht. Die Sprache ist in der Verfassung verankert. So ist beispielsweise die staatliche Förderung von Universitäten davon abhängig, ob sie auf Paschtu lehren oder nicht. Dies wirkt wiederum diskriminierend auf anderssprachige afghanische Bürger und fördert die Spaltung der Gesellschaft. Wie sehr die Präsenz verschiedener Ethnien und Sprachen die Fragmentierung der Gesellschaft widerspiegelt, fällt bei geographischer Visualisierung auf:

Abb. 9: (Körber 2021)

Vor diesem Hintergrund wird das Ziel westlicher Truppen, eine „breit verankerte, von geschlechtlicher Diskriminierung freie, multiethnische und uneingeschränkt repräsentative Regierung" (Vgl. Kap. 4.1) zu schaffen, als ein kompliziertes Unterfangen deutlich. Allein eine repräsentative Übergangsregierung im Jahr 2002 zu schaffen, war eine Gratwanderung zwischen den vielen rivalisierenden Stämmen, Ethnien und Völkern Afghanistans. Die fragmentierte Gesellschaft stellte aber nicht nur die „Akteure der Aufstandsbekämpfung“ vor große Herausforderungen: Auch die Taliban, deren Basis paschtunisch ist, haben mit der Vielfalt des Landes zu kämpfen und werden trotz der Bemühungen um eine breitere ethnische Basis von den meisten zumindest in ihrer Führungsebene als Paschtunen angesehen (vgl. Lieven 2021).

 

Ungebildet, schwer erreichbar und kriegsmüde

Durch ihre sehr ländliche Ausrichtung ist die afghanische Bevölkerung teils schwer kontrollierbar und erreichbar. In den ländlichen Gebieten Afghanistans existieren Dörfer, die nahezu komplett von der Außenwelt abgeschnitten sind (vgl. Goodson 1998: 273). Die hohe Analphabetenrate macht sie zudem anfällig für Propaganda vor allem aufständischer Akteure: Im Jahr 2009 waren 70% der Bevölkerung Analphabeten sowie ca. 90% aller Frauen (Vgl. Friesendorf 2009: 1). Eingeschränkter Zugang zu Internet und Bildungsinstitutionen aufgrund der nur begrenzt ausgebauten Infrastruktur des Landes verschärft dieses Problem. Die vielen ethnischen und religiösen Strömungen, teils historisch verfeindet, tragen zu weiterer Fragmentierung und gegenseitigem Misstrauen bei. Die paschtunische Stammesstruktur steht dem Aufbau staatlicher Strukturen ohnehin skeptisch gegenüber (vgl. Schetter 2007: 236f.).

Da die staatliche Kontrolle und der Aufbau staatlicher Strukturen nur sehr begrenzt wahrnehmbar sind, bietet die Abwesenheit des Staates zusätzlichen Nährboden sowohl für Akteure der Aufständischen als auch die Akteure der Kriegsökonomie, die sich diese Strukturen zu eigen machen und das durch die Abwesenheit des Staates entstandene Machtvakuum ausfüllen (vgl. Schetter 2003).

Darüber hinaus tragen die geografische und gesellschaftliche Struktur Afghanistans zu einer allgemeinen Instabilität des Landes bei. Der andauernde Kriegszustand sowie weit verbreitete Armut bewirkten, dass die afghanische Bevölkerung einen gewissen überlebenssichernden Pragmatismus entwickelt hat (vgl. Foxley 2007: 13). In einer Bevölkerungsbefragung von 2009 gaben Afghanen an, dass „die schlechte Sicherheitslage nach wie vor als das größte Problem empfunden wird“ (Friesendorf 2009: 1). Dies führt dazu, dass große Teile der Bevölkerung diejenigen Akteure unterstützen, die Sicherheit, Arbeit und annehmbare Löhne bieten. Ob dies der Staat, die IG oder die Taliban sind, spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Sowohl die Akteure der Kriegsökonomie als auch die der Aufständischen versuchen dabei als Garanten von Sicherheit und Arbeit an die Stelle des Staates zu treten, um ihre Macht in der Bevölkerung nachhaltig zu verfestigen (vgl. Schetter 2003). Obwohl 2009 78% aller Afghanen die Demokratie als bestmögliche Staatsform ansahen, stehen Sicherheit und Frieden im Vordergrund: „bietet ihre Regierung ihnen keine Perspektive auf eine tragfähige Zukunft, dann lieber ein Frieden mit den Taliban als gar keinen“ (Friesendorf 2009: 1).