Warlordismus in Afghanistan

Warlords sind seit dem 20. Jahrhundert ein fester Teil des politischen Systems Afghanistans. Im Krieg gegen die Taliban kooperierten US-Truppen mit ihnen. Für militärische Ziele klappte das gut - politische Ziele wurden dadurch aber gehemmt, denn der Warlord ist weder an Frieden, noch an stabilen staatlichen Strukturen interessiert. 

 

Warlords als fester Bestandteil des zerstörten Afghanistans

Bereits seit den 1970er Jahren ist Warlordismus in Afghanistan weit verbreitet: Der Kampf gegen das Sowjetregime verwandelte Afghanistan in viele Kleinreiche, die als Herrschaftsgebiete von autonomen Machthabern regiert wurden, den Warlords. Sie sind als Teil einer Gewaltwirtschaft zu sehen, die von der „Erodierung staatlicher Strukturen“ (vgl. Schetter 2003) profitiert. Warlords sind „erstlinig wegen ihrer militärischen Fähigkeiten in einer Führungsrolle. Dieser Nimbus wird durch andere Faktoren erweitert, stabilisiert aber im Kern die Warlord-Figuration“ (Vgl. Kühn 2012: 42): Sie bieten den Bewohnern ihres Herrschaftsgebiets militärische Sicherheit. Die Gewalt wird in diesen Gebieten monopolisiert. Um dies abzusichern, werden von den Warlords nicht nur militärische, sondern auch politische, ökonomische und administrative Fähigkeiten benötigt. (Vgl. Kühn 2012: 41)

 

Warlords als nicht-staatliche Sicherheitsdienstleister

Der Beginn des Afghanistankrieges der USA im Jahr 2001 spielte den herrschenden Warlords gleich in mehrfacher Hinsicht in die Karten: Erstens konnten die Taliban in Kooperation mit US-Streitkräften vertrieben werden. Zweitens konnten die Warlords selbst das entstandene Machtvakuum füllen: „The Taliban fall allowed warlords to reform their old polities in the provinces and to work hand in hand with US-special operation forces.” (Malejacq 2021). Der Sieg über die Taliban bedeutete die Rückkehr vieler mächtiger Warlords. Schon bald stellte sich jedoch heraus, dass diese inkompatibel mit dem Staat waren, den westliche Truppen aufzubauen versuchten (vgl. Malejacq 2021). Warlords sind weder an der Übertragung ihrer Macht an einen herrschenden Staat noch an Frieden interessiert. Warlords können auch als Sicherheitsdienstleister gesehen werden (vgl. Kühn 2012: 39). Um Sicherheit jedoch als kostbares Gut verkaufen zu können, wird eine instabile, unsichere Sicherheitslage benötigt. Die Abwesenheit des Staates ist ebenfalls notwendig, um in seinen eigentlichen Herrschaftsgebieten das Gewaltmonopol beizubehalten. Der Staat kann aus lokaler Sicht also als Konkurrent eines herrschenden Warlords betrachtet werden, der ein Risiko für die eigene Herrschaft darstellt (vgl. Kühn 2012: 45). Dennoch kooperierten viele Warlords mit dem Staat und wurden von Hamid Karzai in ihren Herrschaftsgebieten zu Gouverneuren ernannt (vgl. Farrell/ Giustozzi 2013: 847). Die Warlords hatten die Wahl: Entweder sie arbeiteten mit dem Staat zusammen und erschlossen neue Machtpositionen, oder sie traten dem State-Building offen entgegen: „Die meisten optierten für eine Mischung aus beidem, nämlich der nominellen Mitarbeit im Staat, solange dies dem eigenen Vorteil dient, bei gleichzeitiger Beibehaltung der gewaltsamen ‚Rückfalloption‘“ (Kühn 2012: 43). Warlords nutzten den Staat also aus, um die eigene Macht zu erweitern und bemühten sich gleichzeitig, die Entfaltung staatlicher Machtstrukturen zu verhindern.

 

Warlords als politische Akteure

Ihre Haupteinnahmen generieren Warlords durch die Erhebung von Steuern und Zöllen, dem Anbau und Handel von Opium, Schmuggel - Groß- und Drogenhandel sowie finanzieller und militärischer Unterstützung aus dem Ausland (vgl. Schetter 2003). Wenn Warlords in ein politisches Amt erhoben wurden, wie es in Afghanistan regelmäßig der Fall war, vermischten sich politische und ökonomische Ziele. Der staatliche Kampf gegen illegalen Handel wurde dadurch gehemmt: „Gerade diese Verzahnung von politischer und ökonomischer Sphäre bedingt, dass jede Kampagne gegen illegale Wirtschaftsweisen direkt die Machtbasis der regionalen Potentanten beschneidet.“ (Schetter 2003). Ein praktisches Beispiel: Angenommen, der Gouverneur einer Region Afghanistans ist gleichzeitig als Warlord, Großhändler oder Drogenbaron tätig und generiert aus illegalen Geschäften hohe Einnahmen. Es ist unwahrscheinlich, dass in seinem Gebiet Maßnahmen gegen diese illegalen Geschäfte ergriffen werden. Der Warlords würde sich seine eigene Machtbasis entziehen. Vielmehr sichern Warlords durch ihre politische Betätigung das Fortlaufen ihrer illegalen Geschäfte ab: „Viele Gouverneure haben beispielsweise ihre hybride Warlord-/Strongman-/Räuberbaron-/Staatsrepräsentanten-Existenz formalisieren und legalisieren können. Das bringt ihnen und der internationalen Gemeinschaft, die sie unterstützt, andere Legitimationsprobleme, aber es erlaubt ihnen, ihren Einfluss, beispielsweise über Einnahmen aus der Kontrolle des Drogenmarktes, auf Dauer zu erhalten.“ (Kühn 2012: 49). Da der Staat aufgrund des schlechten Zustandes des eigenen Sicherheitsapparats auf eine Kooperation mit den Warlords angewiesen war, konnten diese ihren Machterhalt politisch manifestieren. (Vgl. Malejacq 2021)

Warlords haben ein Interesse an der Abwehr von Veränderungen der eigenen Identität oder der Situation. Die Gewaltexpertise des Warlords steht dabei immer im Mittelpunkt seiner Macht. Solange eine instabile Bedrohungslage aufrechterhalten werden kann, sichert der Warlord seine militärische Aura und somit seine Macht. Erst wenn Probleme oder Konflikte nicht mehr militärisch, sondern politisch gelöst werden können, schwindet der Einfluss des Warlords. Weil dies unbedingt verhindert werden soll, ist das Interesse an Krieg, Instabilität und Unsicherheit unter den Warlords groß. Es gilt aus Sicht der Warlords, den „Gefahren, die von transformativen Entwicklungen ausgehen, entgegenzuwirken.“ (Kühn 2012: 45). Die Quellen solcher transformativen Entwicklungen sind die westlichen Truppen und ein stabiler afghanische Staat. Warlords hemmten die Bildung eines States aktiv, um den Status Quo und so auch die eigene Macht aufrechterhalten zu können. Konflikte zwischen Warlords können als ein „substaatliches Sicherheitsdilemma“ (Kühn 2012: 45) angesehen werden: Es hilft den Warlords dabei, ihre Präsenz zu rechtfertigen und aufrechtzuerhalten, da so immer eine mindestens latente Bedrohungslage besteht. (Vgl. Kühn 2012: 46–48)

 

Warlords und die afghanische Bevölkerung

Die Abwesenheit des Staates verändert auch die Sichtweise der afghanischen Bevölkerung auf die herrschenden Warlords. Teile sehen diese als ein hinnehmbares Übel in Bezug auf politische Teilhabe und Sicherheitsgarantien an: „Due to the absence of a reliable state, many Afghans regard the phenomenom of Warlordism as a System of political life that is better than an unpredictable future” (Malejacq 2021). Und auch wenn es in Regierungskreisen heißt, die afghanische Bevölkerung müsse einsehen, dass eine Friedensökonomie ertragreicher bzw. profitabler als eine Gewaltökonomie ist, so stellt letztere für einige Bevölkerungsteile die einzige Überlebensmöglichkeit dar (vgl. Schetter 2003). Baut ein einfacher Kleinbauer Opium und Mohn an, verdient er weitaus mehr als mit legalen Produkten. Außerdem ist das Leben als Milizionär, „dessen Hauptaufgabe in dem Eintreiben von Zöllen besteht, weitaus sicherer […] als das Leben eines Bauern, der tagtäglich Gefahr läuft, auf eine Mine zu treten.“ (Schetter 2003).

Es bleibt festzuhalten, dass den Akteuren der Gewaltökonomie hauptsächlich drei Faktoren wichtig sind: die Aufrechterhaltung einer instabilen Sicherheitslage, die Abwesenheit staatlicher Machtstrukturen und die Anhäufung und Manifestierung ihrer Gewalt bspw. durch Partizipation in politischen Ämtern.

Dass die lokalen Machthaber am Wiederaufbauprozess des Landes beteiligt werden sollten, hemmte den Ausbau staatlicher Strukturen. Warlords sind nicht an einem „state-building“ interessiert (vgl. Kühn 2012: 47f.). Sie kämpfen gegen alles und jeden, der ihre Macht herausfordert. Es muss an dieser Stelle jedoch angemerkt werden, dass die Beteiligung der Warlords am Wiederaufbau und ihre Eingliederung in das politische System Afghanistans unter Präsident Karzai schwer zu verhindern war. Die afghanische Übergangsregierung verfügte über keine Armee, mit der staatliche Autorität in den Warlord-Gebieten hätte durchgesetzt werden können: „Karzai had no choice but to acknowledge the warlords authority rather than challenging them“ (Malejacq 2021). Außerdem konnten internationale Truppen geschont werden, indem mit den lokalen Warlords, die sich am Kampf gegen die Taliban beteiligten, kooperiert wurde. Vor allem die USA arbeiteten daher in den Anfangsjahren des Afghanistan Krieges mit lokalen Warlords zusammen (vgl. Friesendorf 2009: 8).